Kurzbeschreibung: … überkam ein mulmiges Gefühl, als sie sich ausmalte, dass sie am nächsten Tag ein anderer Mensch sein würde. Wenn ihre schulterlangen Haare, die sie meist mit einem Band im Nacken festhielt, zu Boden gefallen waren. Wenn sie ihr königsblaues Lieblingskleid mit dem weit schwingenden Rock und dem Taillengürtel gegen die Männerkluft getauscht und ihr Gesicht mit Streifen von Schmutz aus dem Kohleofen überzogen hatte. Wie verdutzt wären ihre Freunde, hätten sie sie im Viehwaggon in dieser Aufmachung gesehen. Aber sie wussten von nichts, glaubten an die Geschichte von der Anstellung in der Hofburg. Alle Viertelstunde hielt der Zug in einem Dorf, Menschen strömten hinein und hinaus, Irma wartete mit geschlossenen Augen auf die Weiterfahrt, und in der Ferne hinter Wiesen und Weizenäckern entdeckte sie endlich Häuseransammlungen. Und da! Der spitze Turm vom Stephansdom! Das Riesenrad! Wie majestätisch es alle Hausdächer überragte. Irma hatte gelesen, dass es erst im vergangenen Jahr fertiggestellt worden war. Was für ein Moment, dieses imposante Gestell mit den rotierenden Waggons zu sehen. Sie würde jeden Heller sparen, um selbst einmal mitfahren zu können. Wien! Die Bremsen kreischten, als die Lokomotive vor der Einfahrt in den Wiener Südbahnhof verlangsamte. Irma hielt sich dicht an Novio, streichelte seine Nüstern, bot ihm einen weiteren Apfelschnitz an. Endlich stand der Zug, die Tür wurde entriegelt und mit einem Knarzen aufgeschoben. Irma sog die Luft ein und presste sich eine Hand vor den Mund. Ihr Lächeln verriet sie. Sie musste ernst bleiben, wenn ihre Tarnung nicht auffliegen sollte. Das hätte sie bedenken müssen! Hoffentlich hatte sie nicht noch mehr außer Acht gelassen, als sie sich ausgemalt hatte, wie sie sich als Mann verhalten musste. Dann verließ sie mit Novio den Waggon. ..
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