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Kurzbeschreibung: Norderney 1913: Aufruhr im eleganten Seebad – ein Mädchen ist verschwunden, und ein kaiserlicher Rittmeister wurde ermordet ... Der Raddampfer Najade bahnte sich kraftvoll seinen Weg durch das bewegte Meer. Türkisfarbene Wellen türmten sich auf und trugen weiße Schaumkronen vor sich her. Viktoria stand an der Reling und schaute hinaus. In der Ferne konnte sie bereits die Insel sehen – ein dünner Strich am Horizont, der rasch breiter wurde. Schon bald konnte sie den Strand ausmachen und die ersten weißen Häuser, die im Licht der Morgensonne erstrahlten. Sie sah am südlichen Ende der Insel die Marienhöhe, die Villen und den neuen Malerturm – und weiter hinten den weit ins Meer hinausragenden Seesteg. Auf einer Bank hinter Viktoria saß ein älteres Ehepaar. Die Frau hatte Viktoria schon eine ganze Weile mit missbilligendem Blick beobachtet. Als Viktoria sich von der Reling abwandte, um sich ebenfalls zu setzen, konnte sie ihre Neugier nicht mehr zügeln. »Ist Ihr Herr Vater schon vorgefahren, Fräulein?«, fragte sie. »Oder Ihr Herr Gemahl?« Sie zog ihr kariertes Reiseplaid gerade, das über ihren Beinen lag. Viktoria seufzte. Derartige Bemerkungen bekam sie oft zu hören. Wo gab es denn so etwas? Eine junge Dame, die allein auf Reisen ging! Ohne Familienangehörige oder zumindest mit einer Gouvernante – selbst wenn die junge Dame schon Ende zwanzig war. »Nein, ich reise allein«, antwortete Viktoria ruhig. »Ich arbeite, also kann ich auch allein reisen.« Die Augen der Frau wurden schmal. »Sie gehen einer Tätigkeit nach?« Es klang, als wäre es anrüchig. »Ich bin Lehrerin«, erklärte Viktoria. Noch immer erfüllte es sie mit Stolz, die Worte auszusprechen. Seit gut einem halben Jahr arbeitete sie in einer Reformschule in Hamburg. Es war nicht leicht gewesen, ihren Vater davon zu überzeugen, dass sie einen Beruf ergreifen wollte. Als Tochter eines Oberstaatsanwalts wurde von Viktoria erwartet, dass sie heiratete und Kinder bekam. Viktoria wollte ihr Leben nicht damit vergeuden, die Rolle der braven Ehefrau einzunehmen, die mit der Hochzeit all ihre Rechte aufgab. Sie wollte selbstständig sein und etwas im Leben bewirken. Vor dem Familienbad bog Viktoria ab Richtung Kiefernwäldchen. Dort ließ der Wind spürbar nach. Sie nahm ihren Hut ab und steckte ihre Locken wieder fest, die sich gelöst hatten. Links erhoben sich mehrere miteinander verbundene Gebäude aus dunkelrotem Backstein. Das Kinderkrankenhaus »Seehospiz Kaiserin Friedrich«, benannt nach der Kronprinzessin ..
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